Es ist ein Luxus, wenig zu besitzen

«Es ist ein Luxus, wenig zu besitzen», sagte vor geraumer Zeit ein Kollege meiner Frau eher zufällig in die Runde. Leider habe ich die nachfolgende Diskussion verpasst, aber trotzdem liess mich etwas aufhorchen und ich wurde zum Nachdenken angeregt. Was meinte er damit genau? Ist es nicht eher Luxus, viel (teures) zu besitzen? Ich erkannte den Kern der Aussage: In unserer Gesellschaft, wo es uns an nichts mangelt besitzen wir Dinge im Überfluss und müssen lernen, dass es auch mit weniger geht. Aber stimmt das wirklich?

Zunächst einmal gilt es abzugrenzen. Ich denke, dass sich die Aussage erst mal nur an jene richtet, die in einer Wohlstandsgesellschaft schon vieles von dem besitzen, was es zu besitzen gibt. Auf Menschen, die täglich schauen müssen, wie sie über die Runden kommen wirkt dieser Spruch zynisch. Nein, es geht vielmehr um jene, die einen fünf-türigen Kleiderschrank für ihre Kleider brauchen oder die, deren Auto/Haus/Boot grösser und besser sein muss als das des Nachbarn.

In meinen Coaching-Terminen habe ich auch Kunden, die genau in diesem Kreislauf gefangen scheinen. Mehr Dinge haben wollen, grösser, schneller, besser, mehr Geld verdienen, aber trotzdem kein Stück glücklicher. Ist möglicherweise der Satz des Kollegen meiner Frau die Anleitung zu mehr Glück für diese Menschen?

Mein Experiment

Ich beschloss spontan ein Selbstexperiment. Das ist jetzt neun Monate her. Ich habe mich selber nie für jemanden gehalten, der viele materielle Dinge besitzt, aber Selbsteindrücke sind relativ und können täuschen. Wo also sollte ich beginnen? Es gibt ein paar «low-hanging fruits», die sich jedermann/jede Frau einmal anschauen kann, zum Beispiel… Kleider.

Kleider

Die Umweltorganisation Greenpeace hat 2015 im Rahmen ihrer Detox-Kampagne für nachhaltigere Textilproduktion 18 bis 69-Jährige zu ihrem Umgang mit Kleidung befragt. Die repräsentative Umfrage „Wegwerfware Kleidung“ zeigt beispielsweise, wie viele Kleidungsstücke die Befragten im Durchschnitt besitzen – Tendenz steigend. Im Durchschnitt besitzt jeder erwachsene Deutsche 95 Kleidungsstücke; mehr Bildung und mehr Einkommen führt übrigens gemäss Umfrage auch zu mehr Kleidung. Wirklich erschreckend an der Umfrage ist, dass gute 19% der Kleider so gut wie nie getragen werden.

Das Thema Kleider habe ich auch bei mir genauer untersucht. Ich habe während einigen Monaten jene Kleider die ich häufig trage in die eine Hälfte des Kleiderkastens gelegt / aufgehängt und alles andere in die andere Hälfte sortiert. Das Ergebnis: Einige Besuche bei der Heilsarmee und 1-2 Säcke voll Kleider an die Schweizer Berghilfe abgegeben.

Loswerden ist das eine, wie aber kann ich nun verhindern, dass es wieder mehr Kleider werden? Dazu habe ich mich hingesetzt und mir für jede Art Kleidung überlegt, wie viel davon ich wirklich benötige. Zum Beispiel: Anzahl Jeans (2), Anzahl Chinos (3), Anzahl T-Shirts (4), Anzahl weisse Hemden (5), Business-Anzüge (2). Kaufen – und das ist die grosse Veränderung – tue ich erst etwas Neues wenn etwas Bestehendes kaputt geht oder verwaschen / nicht mehr farbecht ist.

Schuhe

Gemäss einer leicht in die Jahre gekommenen Umfrage von yougov aus dem Jahr 2014 besitzt jeder Deutsche im Schnitt 12.8 Paar Schuhe. Frauen 17.3, Männer 8.2 – Holy cow, da war ich ja mit meinen fast 20 Paar Schuhen weit drüber. Ich stellte fest, dass ich viele von den Schuhen die ich besass, selten bis gar nie trug. Also weg damit: Heilsarmee, Brockenhaus, Bekannte mit derselben Schuhgrösse sind dankbare Abnehmer. Auch hier gilt das gleiche Prinzip wie oben, um zu verhindern, dass die Anzahl Schuhe wieder steigt. Ich überlege mir selber, wie viel Schuhe ich wirklich benötige und halte mich daran, d.h. gekauft wird erst etwas, nachdem das vorherige kaputt ging oder runtergelaufen ist.

Keller

Der Keller ist bei vielen Menschen eine unendliche Quelle von «Ausmisten». Dazu habe ich mir für mein Experiment folgendes überlegt. Warum wandert etwas in den Keller?

  1. Dinge mit saisonaler und oder unregelmässiger sportlicher Nutzung, z.B.  Skier, Schlittschuhe, Wanderschuhe, ggf. saisonale Kleidung, Weihnachtsdeko.
  2. Nützliche Dinge, die nicht unbedingt jeden Tag gebraucht werden: Werkzeug, Bohrmaschine etc.
  3. Haltbare Lebensmittel, Wein, etc.
  4. «Alte» Dinge: Wir haben ein neues Küchengerät gekauft, wollen aber das «alte», noch funktionierende nicht wegwerfen oder weitergeben… «verräumen wir es mal in den Keller».
  5. Dinge mit emotionalem Wert: Das Hochzeitskleid oder die Lederjacke aus den guten alten Zeiten.
  6. Dinge, von denen man glaubt, dass sie irgendwann mal noch genutzt werden können: Eigene, alte Schulsachen, vielleicht für die Kinder mal nützlich. Kabel aller Art. Schuhe, damit sie aus dem Auge und aus dem Sinn sind. Alte Möbel.

Mein Selbstexperiment hat mir aufgezeigt, dass gerade in den Punkten 4-6 unglaubliches Potential steckt, denn die «Kosten», etwas aufzubewahren und sich damit auch mit dessen Aufbewahrung im weitesten Sinne zu belasten überwiegen bei weitem gegenüber dem unwahrscheinlichen Fall, dass das eine Ding mal noch zum Einsatz kommen könnte. Als Mensch mit einer gewissen Neigung zu Technologie habe ich selber anfänglich viele Dinge mit Charakter-Punkt 6 (siehe oben) behalten, mich dann aber fast schon mit Freude davon getrennt. Alte iPhones oder uralte Kabel (RS232, wem das was sagt).

Darum: Weg damit. Verschenken, weitergeben macht Freude, möglicherweise verkaufen. Ich konnte so in unserem Keller zwei Gestelle zurück bauen. Schön leer sieht es jetzt aus.

Apropos: Technik und Elektronik

Als Technik-Fan war diese Sparte bei mir eine wahre Fundgrube des Loslassens. Telefone, mehrere Computer, Monitore, Messgeräte, Video-Terminals, Modems, Router, Netzwerk-Switches, Computer-Zubehör aller Art. Alles verkauft oder verschenkt auf tutti, ricardo oder eBay.

Papier / Briefe / Ordner / Unterlagen / Garantiescheine / Bedienungsanleitungen

Die Welt ist digital geworden. Banken, Krankenkassen, Steuern, alles geht mittlerweile papierlos in gewissen Ländern, andere sind noch nicht ganz soweit. Was man unbedingt noch braucht kann man einscannen. AGBs, zB. zu Käufen oder Verträgen lassen sich immer online finden und herunterladen. Das gleiche gilt für Bedienungsanleitungen.

Diese Umstellung habe ich schon vor 2 Jahren begonnen und die Anzahl Bundesordner hat inzwischen auf Null abgenommen.

Bücher

Bücher, von denen man weiss, dass man sie nur einmal liest sollte man gleich digital kaufen. Hierzu hatte es bei mir gleich Dutzende, die in die Papiersammlung gewandert sind, denn es waren wirklich nur Staubfänger. Aufbewahren, weil man vielleicht den einen Harry Hole-Krimi von Jo Nesbø wieder mal liest? Auch wenn der Krimi gut war, die Wahrscheinlichkeit ist klein bis gering. Weg damit.

Dann gibt es andere Bücher, eher Werke, bei denen es sich lohnt, ein schönes, gebundenes Buch zu kaufen. Das darf dann auch in ein schönes Gestell.

An dieser Stelle sei übrigens erwähnt, dass es mit der Verschiebung in Richtung Digital natürlich auch ein gelegentliches digitales «Ausmisten» braucht. So habe ich mir meine digitale Ablage so organisiert, dass ich schnell Dokumente finde, die älter als z.B. 10 Jahre sind. Das gleiche gilt übrigens für Emails.

Fazit

Nach ca. neun Monaten kann ich mit Fug und Recht behaupten: Ich fühle mich freier. Befreiter. Ich habe Ballast abgeworfen, und das meine ich im übertragenen wie auch im echten Sinn des Wortes. Ballast, von dem ich vorher nicht einmal wusste, dass er überhaupt da war. Ich habe mich schon fast mit Freude von Dingen getrennt von denen ich überzeugt war, dass ich sie niemals weggeben oder weiterverschenken würde.

Neulich habe ich von einem IT-Experten gelesen, der seinen ganzen Besitz in einer Sporttasche unterbringt. Mehr besitzt er nicht mehr. Ich glaube nicht, dass ich so weit gehen möchte, aber trotzdem beeindruckend.

Ich mache weiter.

Und wie geht es weiter?

Richtig spannend wird mein Experiment erst jetzt, wo ich damit beginne mir vor Augen zu führen, dass ich die richtig grossen, ggf. teuren Dinge noch nicht angeschaut habe. Von meinem Zweitauto habe ich mich vor Jahren getrennt, aber brauchen wir überhaupt eines? Und wenn ja, tut es auch ein kleineres, bescheideneres Modell? Oder ginge auch nur ÖV?

Und wie schaut’s aus mit Uhren, Schmuck, anderen Luxusgütern? Wie viel davon ist ok, was ist überrissen? Wirklich tragen kann man ja nur eine Uhr, nicht zwei oder mehrere.

Und nun, wo die Wohnung durch das viele Ausmisten und Ballast abwerfen deutlich leerer ausschaut: Brauchen wir überhaupt noch so eine grosse Wohnung, oder tut es auch eine kleinere?

Von den Antworten darauf kann ich noch nicht berichten, denn das Experiment geht weiter. Resultate vielleicht demnächst in diesem Blog.